Das muss man jetzt auch erst mal verstehen: Eine knappe Woche, nachdem er ein Tor gegen Liverpool überschwänglich gefeiert hat, erklärte Luis Suárez, ein eventuelles Tor gegen Liverpool nicht feiern zu wollen. Erneut trifft der Mittelstürmer des FC Barcelona nach dem 3:0 aus dem Hinspiel auf seinen Ex-Verein, und der Unterschied schuldet sich dem (möglichen) Tatort - diesmal steigt die Sause an der Anfield Road. "Ich werde nicht jubeln wegen des Respekts, den ich für ihr Zuhause habe", so Suárez.
Eigentlich hätte er sich diese Distinktion auch sparen können. Und an sich ist die aus England angeheizte Debatte über seine vermeintlich unbotmäßige Zelebration auch reichlich absurd. Nicht feiern? So viele Tore in Champions-League-Halbfinals schießt nicht mal ein Weltklassestürmer. Für Suárez war es zudem eine Erlösung, sein erster Europacup-Treffer seit 13 Monaten. Und mal ganz im Ernst: Ein Suárez, der politisch korrekt die Hände hebt und jubelnde Mitspieler abwehrt - was für ein Suárez soll das denn sein?
Der Uruguayer steht für andere Dinge, und die haben sie auch in Liverpool jahrelang geliebt. Voller Einsatz für sein Team, ohne Rücksicht auf Verluste, oft streitbar, oft im Grenzbereich. 82-mal in 133 Spielen traf er für die Engländer, 177-mal in 246 Partien seit dem Wechsel 2014 nach Barcelona.
An beiden Stationen gewann er je einmal den Goldenen Schuh für Europas besten Torjäger. An beiden schaffte er mit seinen Laufwegen permanent Räume für die Mitspieler, opferte sich im Pressing auf, verwickelte die gegnerische Abwehr in Abnutzungskämpfe, die er oft genug gewann. 32 Jahre ist er jetzt alt und noch besser als seine Statistiken - die Tore, die er durch ein Balldurchlassen oder Verteidiger-Wegziehen vorbereitet, tauchen da ja gar nicht auf.
Suárez ist außerdem: gereift. Langjährige Wegbegleiter beschreiben ihn als offener und zutraulicher. Und nein, er beißt nicht. Nicht mehr. Wenn der ehemalige Liverpool-Stürmer John Aldridge ihn nun in einer Zeitungskolumne als "Ratte" beschimpfte und die Spieler dazu aufforderte, ihn zu Tätlichkeit und Platzverweis zu provozieren, dann verriet er damit nichts als seine eigene Ignoranz. Suárez mag den Grenzbereich weiter ausloten. Überschritten hat er ihn schon lange nicht mehr.
Darin sieht er seine Verantwortung gegenüber einem Klub, der mitten im Skandal um seinen WM-Biss gegen Giorgio Chiellini stolze 80 Millionen Euro ausgab. Während ihm der Weltverband Fifa für vier Monate das Betreten jeder Fußballanlage untersagte, Liverpools Eigentümer John Henry zu Protokoll gab, "die Zeit für eine Trennung war reif", und etliche Medien den Transfer als verrückt bis amoralisch einstuften, entgegnete Barças damaliger Sportdirektor Andoni Zubizarreta: "Warum soll er keine zweite Chance verdienen?" Suárez arbeitete mit einer Psychologin an seiner Selbstkontrolle. Und wahrscheinlich half auch, dass Barcelona für ihn seit jeher ein Hafen war.
Nach Barcelona war seine Jugendliebe Sofía mit ihren Eltern ausgewandert, als Suárez 16 war - das Mädchen, "das mich vor mir selbst rettete", wie er mal rückblickend auf eine schwierige Jugend sagte, die noch viele andere Abzweigungen anbot als eine Sportlerkarriere. In Barcelona besuchte er Sofía drei Monate später, nachdem er sich Geld von seinem Agenten borgte, weil er es vor Liebeskummer nicht mehr aushielt.
Gemeinsam schmuggelten sie sich ins Camp Nou, es gibt ein Foto von dem Tag. In Barcelona schließlich stieg Sofía ohne Gepäck mit ihm ins Flugzeug nach Groningen. Suárez, mittlerweile 19, hatte dort einen Vertrag unterschrieben. Er hatte nicht gewusst, wo Groningen lag, es reichte ihm, dass es in Europa war, näher an Sofía. Nun sagte er: Komm mit, ich kann den Flug bezahlen. Sie kam mit, für immer.
In Barcelona wohnen sie jetzt im Strandvorort Castelldefels mit ihren drei Kindern, gleich um die Ecke von Lionel Messi, der in jenem Sommer 2014 eigentlich auf seinen argentinischen Kumpel Kun Agüero als Neuzugang gehofft hatte, sich aber mit Suárez bald mehr als arrangierte. Oft sieht man die beiden zusammen zum Training oder zu einem Spiel im Camp Nou fahren. Nach Hunderten gemeinsamen Partien und noch mehr Mate-Tee-Sessions gehört Suárez zu den wenigen, die des Wunderfußballers Launen wirklich interpretieren können. Als Seismograf wie als Korrektiv.
Wähnt er Messi im Off-Modus, pusht Suárez noch mehr. Und ist er dazu nicht in der Lage, wirft er es sich selbst am meisten vor. Während seiner oft schleppenden Saisonstarts, wenn ihn die Kritiker als langsam, dick und alt bezeichnen. Oder nach dem kollektiven Debakel vorige Saison beim Champions-League-Aus in Rom, als er noch Monate später damit haderte, sich im Ligaspiel zuvor nicht geschont zu haben.
Heute spielt Barcelona in Liverpool auch gegen diese Erinnerung. Er glaube an einen freundlichen Empfang durch seine ehemaligen Fans, sagt Suárez. Wer seine Geschichte kennt, der kann ihm kaum verdenken, dass er Tore für Barcelona bejubelt.
spiegel
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